Das Gespräch findet in einer alten Fischerhütte am Egelsee statt. Altmodische Gardinen mit Häuschenmuster schmücken die Fenster, auf der Theke stehen Most und Chnoblibrot. Draussen regnet es. Man sieht die Regentropfen auf dem See. Die Gäste tragen Gummistiefel, Regenjacken in grellen Farben. Manch einer trägt Bergschuhe. Die Pfützen auf dem Uferweg waren tief, jetzt sieht man den Schlamm auf den Stiefeln trocknen und ist froh, wieder drinnen zu sein. Tische werden verschoben, Stühle gerückt, die alte Fischerhütte ist bald zum Bersten voll. Die Initianten setzen sich in die erste Reihe. Blumensträusse schmücken das Podium, Margeriten, Löwenzahn, Wiesensalbei. Der Mann mit der Kamera stellt sie weg, damit man die Gesichter besser sieht. Die Moderatorin ergreift das Wort. Man öffnet die Reissverschlüsse der Regenjacken, füllt die Gläser nach, das Gespräch beginnt.
Die Moderatorin begrüsst das Publikum, zum Gespräch über kulturelle, künstlerische oder generell kreative Nutzung von öffentlichen Räumen. Sechs Initiativen aus den Städten Basel, Bern und Luzern waren eingeladen worden und eine Stadträtin, welche die Perspektive der Politik im Publikum vertreten soll. Die Moderatorin spricht vom Boom der Initiativen, von Büchern wie »Stadt selber machen«. Von Ökonomisierung und Eventisierung des städtischen Raumes. Auch von Verdichtung und Smart Cities. Regen prasselt an die Fensterscheiben. Der Wasserspiegel vom Egelsee ist in den letzten Tagen stark angestiegen. Jetzt schwimmt ein Schwan am Fenster vorüber, schaut in die Fischerhütte hinein wie ins Aquarium. Die Luft drinnen ist tüppig, die Initianten, hemdsärmlig, schwitzen, jedes Mal wenn sie das Wort ergreifen.
Ein junger Mann mit Gelfrisur und eng anliegendem Hemd erzählt vom Neubad, einer Zwischennutzung in Luzern. Im grossen Pool gebe es Veranstaltungen, in den ehemaligen Garderoben Ateliers für Künstler. Besonders die Beiz laufe gut. Auf der Terrasse mache man Urban Gardening, heute sei grad Setzlingsverkauf. Nur das liebe Geld, man sei halt nicht so flüssig. Das Wort wird weitergereicht, an die Kollegin zu seiner rechten. RAST, das war einmal eine nomadische Kulturplattform. Bis heute hätte man keinen Ort, es gehe um ein exploratives Spiel mit der Stadt. Vor allem machen, wozu man Lust habe, so das Erfolgskonzept. Worksphops, zum Beispiel. Zum Thema Jassen, Arduino oder Film. Ein Festival zum Thema Hacking. Oder ein Theatertreffen. Über die Fragen der Moderatorin lacht die Kollegin laut, nein, mieten könne man sie nicht und Geld würde auch keines verdient. Wo das Geld fehlt, brauche es halt Leidenschaft. Die Tür neben dem Podium geht auf, ein kleiner Mann mit Hosenträgern steht plötzlich da, sieht sich um, schliesst die Tür hinter sich. Er beachtet das Gespräch kaum, schaukelt wie ein Schwan zwischen den Stühlen hindurch, am Podium vorbei, zur Theke. Dort angekommen setzt er sich auf einen Hocker, man sieht, der ist von hier, der kennt sich aus. Der nächste Initiant stellt ein Projekt vor mit dem Titel Transform. Vor vier Jahren brachte es erstmals verschiedene Künstler in einem Hinterhof zusammen. Bis heute werden einmal im Jahr neue Künstler eingeladen. Der Ort wechselt, man will Punkte ausserhalb der Stadt beleuchten, die weniger im Bewusstsein sind.
Ausserhalb der Stadt, im Gjätt, setzt auch die vierte Initiantin an, das heisst in der Kiesgrube vom Weissenstein. Die sei lange abgesperrt gewesen, weil einst ein Kind ertrunken ist. Trotzdem sei die Grube Teil ihres Lebens geblieben, so die Frau, die spricht mit einer Mähne wie ein Löwe, in der Wir-Perspektive, als Kiesgrubenbewohner. Als die Kinder grösser und wild geworden seien, habe man zu ihnen sagen können: Gang use. Gang id Gruebe. Man habe gesehen, wie es den Kindern Freude macht, draussen zu sein. Alle freuten sich an diesem Dreck, an den Fröschen und Molchen. Die Stadt habe irgendwann einen Zaun bauen wollen, mit einem Tor, wozu die Kiesgrubenbewohner den Schlüssel hätten erhalten sollten. Man habe aber keinen Zaun gewollt, so die Frau. Sondern lieber ein Loch im Zaun. Das aktuelle Projekt befinde sich nun in einem Obstgarten, es trage den Titel Wildwechsel. Dort wolle man den Leuten vom Quartier die Möglichkeit geben, den Ort selber zu gestalten. Sie selber entscheiden zu lassen, ob sie zum Beispiel eine Rutschbahn wollen. Oder etwas anderes. Vor der Fischerhütte beginnen die Abendvögel zu singen, jemand stellt seinen Ghettoblaster auf den Fenstersims, berndeutscher Hiphop dringt in den Raum.
Ein älterer Mann mit Namen Leibundgut stellt den Verein der alten Feuerwehr Viktoria vor. Das Wort Kaserne habe man bewusst gestrichen, so der Mann. Viktoria, das sage schliesslich auch etwas. Er reicht Blätter herum, wo der Aufbau des Vereins graphisch dargestellt ist. Heute sei man im Erd- und Untergeschoss der alten Feuerwehr quasi angekommen, stehe kurz vor dem Einzug, auf zweitausendsechshundert Quadratmeter mit achtzehn Projekten in fünfzig Räumen. Das Spektrum sei breit, es gebe soziale Netzwerke und Quartierarbeit, den Fanclub YB, ein Raumteilungsprojekt, Raumsharing, aber auch Jungunternehmer, eine Kaffeebrennerei, eine Ölmühle, eine Ingwerlikörherstellung, eine Schneiderei, eine Velowerkstatt, ein Eventbüro. Nicht zu vergessen das Gastroprojekt und der Bioladen. Den FC Breitenrain und der Boxclub, für Männer und Frauen. Und das Malatelier und das Webatelier sowie die Kunst am Bau. Hoffentlich gebe es bald auch Urban Gardening, sagt der Mann und man sieht, dass ihm die Stadt quasi aus dem Kopf heraus spriesst, ahnt, da steckt viel Herzblut drin. Der Ghettoblaster auf dem Fenstersims wird nochmals aufgedreht, die Veranstalter werfen sich fragende Blicke zu, man hebt die Schultern, was soll man machen, man wartet ab.
Die letzte Initiantin hat bis anhin reglos auf ihrem Stuhl gesessen, jetzt stellt sie eine Coladose auf den Tisch, schiebt die Ärmel zurück. Bblackboxx, so laute der Projektname. Oder antirassistischer Kunstraum. Der Ort liegt in der Nachbarschaft des Empfangs- und Verfahrenszentrum in Basel. Das Verfahrenszentrum ist gekoppelt ans Ausschaffungsgefängnis, alles zusammen ein riesiger Komplex. Und, die Frau holt Luft, zögert. Es sei ganz gut, am Anfang keinen Plan zu haben. Sie hätten so in der Nähe des Empfangszentrums einen leerstehenden Kiosk übernehmen können, quasi als Künstleratelier. Nach drei Jahren habe die Stadt erst festgestellt, dass daraus eine Institution geworden sei. Die Moderatorin fragt nach dem Ort, nach seiner Konstitution, so am Rand der Stadt. In der Stimme der Initiantin schwingt Ungeduld, die sich in Zorn verwandelt, wenn sie davon spricht, wie überall auf der Welt die Gefängnisse ja ausserhalb von der Wahrnehmung der Bevölkerung gebaut würden, damit niemand mitbekomme, was dort ablaufe. Sie von der Bblackboxx hätten darum beschlossen, sich an einem solchen Ort niederzulassen, quasi als Gegenüberwachung. Am Anfang habe man noch gedacht, Empfangszentren, das seien humanistische Einrichtungen. Mittlerweile sehe sie das eher als modere Konzentrationslager. Genauso wie die Bundeszentren, die nun kommen. Damit sei die Dringlichkeit, dort zu bleiben, immer mehr gewachsen. Man sei aber kein Kollektiv, sondern eine Gemeinschaft. Teil der dortigen Park Community. Die Aufgabe der Kunst an diesem Ort, ja immer, in jeder Gesellschaft: die Verteidigung eines nicht verwertbaren Raumes. Dies gelte besonders in der Nachbarschaft eines solchen Zentrums, wo die Kunst eine starke Kraft habe, weil sie ein normaler Raum sei, der weder mit Charity noch mit Kontrolle zu tun habe, sondern nur mit Solidarität.
Die Worte der Frau, sie sind ein starkes Plädoyer. Man könnte sie gut stehen lassen, als Schlusswort, so dass sie noch lange nachhallen in den Köpfen des Publikums, in dieser alten Fischerhütte, an diesem regnerischen Sonntagnachmittag. Aber das Gespräch hat ja noch gar nicht begonnen, das war erst die Vorstellungsrunde. Also, das Gespräch muss noch entbrennen! Man plagt sich eine weitere halbe Stunde mit Begriffen wie Bewilligung, Behörden und Befristung, gerät sich mit Argumenten in die Haare, spricht über die Notwendigkeit von weniger Selbstkontrolle und verschränkt die Arme vor der Brust. Schliesslich steht einer der Veranstalter auf und bittet den da draussen, er möge seine Musik etwas leiser machen, das Gespräch neige sich schon dem Ende zu. Später würden die Türen wieder geöffnet und es gibt Most und Chnoblibrot. Der See, soviel ist durch den Türspalt zu erkennen, ist weiter angestiegen bis zum oberen Rand der Türschwelle.
Noëmi Lerch